Vom Manneken Pis zum Okzitanischen

Was verbindet die Städte Brüssel, Lacaune und Osnabrück?

Auf einer italienischen Architektur-Website (in der englischen Version) über Kunstwerke im öffentlichen Raum, die zu Wahrzeichen ihrer Städte geworden sind, habe ich in einer Mußestunde eines nach dem anderen angeschaut und bin dabei von der Freiheitsstatue in New York über die Brunnenskulpturen vor dem Centre Georges Pompidou in Paris bis zum Manneken Pis in Brüssel gekommen. Gerade bei diesem wollte ich mal mehr wissen, habe in Wikipedia geschaut und bin von dort auf zwei weitere Brunnenskulpturen gestoßen, zum einen das weibliche Pendant in Brüssel (Jeanneke Pis, 1985), zum anderen der Brunnen Fontaine des Pisseurs (16. Jh.) in Lacaune in Südfrankreich, bei dem vier Knaben die harntreibenden Eigenschaften des lokalen Wassers darstellen sollen.

Lacaune liegt etwa 90 Kilometer westlich von Clermont-l’Hérault, wo ich zwischen Grund- und Hauptstudium erste Lehrerfahrungen als Sprachassistent machen konnte. Das Städtchen war aber schon etwas hinter den Bergen, sodass ich es damals nicht „auf dem Schirm“ hatte, wie man heute sagen würde. Erst einige Jahre später habe ich durch eine Dissertation davon erfahren, die mir während der Arbeit an meiner eigenen Dissertation zur Rezension angeboten wurde: die Fallstudie zur „sozialen Rolle des Okzitanischen“ (1985) von Trudel Meisenburg. Meine zwei Seiten lange Rezension ist dann 1986 in der Ausgabe 43/44 der Zeitschrift Lendemains (für Vergleichende Frankreichforschung) erschienen, die das Schwerpunktthema „L’Avant-garde belge“ hatte, was gerade wie eine kleine Pointe wirkt.

Nachdem ich das Heft jahrelang, vielleicht jahrzehntelang nicht mehr in der Hand hatte, zähle ich den Text nach dem Wiederlesen zu meinen guten „Frühwerken“, vom Inhalt wie auch vom Stil her:
Am Beginn der Untersuchung selbst steht eine ausfĂĽhrliche Beschreibung des Ortes Lacaune, nach der man sich die Verhältnisse gut vorstellen kann: eine Kleinstadt ohne höhere Schule, aber mit ein paar Wurstfabriken, von den Hauptverkehrswegen aus gesehen „hinter den Bergen“ und von der nächsten größeren Stadt fast 50 km entfernt – „Occitanie profonde“ könnte man sagen. Diese Charakterisierung zeigt, dass dort noch ein gewisser Gebrauch des Okzitanischen vermutet werden kann (…) er ist also gĂĽnstig gewählt fĂĽr eine solche Untersuchung. (…) Als Erklärung fĂĽr das „pourquoi“ [die GrĂĽnde fĂĽr das Aussterben des Okzitanischen] findet sich am Schluss dieses Teils eine sehr signifikante Antwort: „Das ist halt der Fortschritt. FrĂĽher fuhr man mit dem Fahrrad, heute fahren alle mit dem Auto. Mit der Sprache ist es gleich, und man ändert nichts daran.“ (Zitat im Original französisch)

Diese Geschichte hat mehrere Stränge, und mit dem langen Abstand habe ich zu diesen ein bisschen recherchiert:
Trudel Meisenburg ist seit 1999 Professorin für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Osnabrück, mit Schwerpunkten wie Phonologie, Sprachvergleich und Soziolinguistik. Diese Universität ist mir vor allem durch die Zeitschrift Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (abgekürzt OBST!) ein Begriff, in der ich 1985 unter dem Titel „Harte Energie und sanfte Sprache“ eine Kurzfassung meiner Magisterarbeit über die Sprache der Energiepolitik veröffentlicht habe.
Die Zeitschrift Lendemains war damals beim linken (wie später bekannt wurde, von der DDR finanzierten) Pahl-Rugenstein-Verlag, seit 2005 erscheint sie im Verlag Gunter Narr (heute Narr Francke Attempto Verlag).
Über die Lage der okzitanischen Sprache habe ich im Juni 1988 bei einer Tagung über „Historische Sprachkonflikte“ an der damaligen Katholischen Universität Brüssel (UFSAL) ein Referat gehalten – unter dem zwiespältigen Titel „Versuch eines konstruktiven Nachrufs auf das Okzitanische“ und mit Meisenburg 1985 als einer der wichtigsten Quellen.
Meine letzten Aufenthalte im okzitanischen Sprachgebiet sind auch schon viele Jahre her, zuletzt in den frühen 90er Jahren im französisch-italienischen Grenzgebiet – seitdem war ich in Frankreich aus familiären Gründen mehr zum Atlantik orientiert. Ich sollte wohl mal nachschauen, was man im Languedoc heute noch vom Okzitanischen hören kann, zumindest auf dem Land.

Da ich keine eigenen Bilder von Lacaune habe, muss ich es mit einem illustrieren, das am nächsten drankommt: Die Sonnenuhr mit den „vorbeiziehenden Stunden“ habe ich vor vielen Jahren bei Bédarieux (fast auf halbem Weg zwischen Clermont-l’Hérault und Lacaune) fotografiert, genauer gesagt in dem Weiler Le Bousquet de la Balme – der Ortsname „Balm“ wäre wieder ein Thema für sich. Die Inschrift ist heute etwas verblasst, wie man bei Tripadvisor unter „La maison du cadran“ (Das Haus der Sonnenuhr, FeWo, 65 Euro/Nacht für 2 Pers.) sehen kann!

Die Stunden ziehen vorbei …

Von der Fontaine des Pisseurs gibt es hier ein schönes Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lacaune#Sehensw%C3%BCrdigkeiten
(In der französischen Wikipedia gibt es einen ganzen Artikel darüber.)

Auf dieser Karte auf dem Umschlag einer BroschĂĽre von 1983 liegt Lacaune etwa zwischen Rodez und Carcassonne.

So war in den 80er Jahren noch Satz und Layout von wissenschaftlichen Zeitschriften.

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