Leser abholen und mitnehmen

„Wenn die Literatur sich zu sehr bemüht, die Leute da abzuholen, wo sie stehen, macht sie es sich zu einfach. Sie hat ja die Aufgabe, die Leute dahin zu bringen, wo sie noch nie waren.“
Über das literarische Schreiben habe ich vor kurzem, in der Laudatio bei einer Vernissage im Kunstverein, diesen bedenkenswerten Satz gehört. Die Künstlerin ist auch durch einen Roman bekannt, deshalb ging es in diesem Kontext auch um Literatur.

Darüber könnte ich jetzt einen Essay oder mehr schreiben, aber hier passen nur ein paar Notizen:
Die Leser an ihrem Ort abzuholen ist eigentlich immer gut, sonst stehen sie da rum – wie bestellt und nicht abgeholt. 

Die Orte, an denen die Leser noch nie waren, können ganz unterschiedlicher Art sein:
exotische Orte, die nicht oder schwer erreichbar sind, von Bhutan bis zum SĂĽdpol
utopische Orte, an denen noch niemand war, die aber ein erstrebenswertes Ziel sind,
technisch ferne Welten, die im Bereich der Science Fiction liegen,
soziale Milieus, zu denen die meisten Leserinnen keinen Zugang haben, aber vielleicht gerne hätten, wie die Orte der Königshäuser oder der Schickeria …
Das wären dann ganz unterschiedliche Aufgaben, die Literaten sich suchen.  

Der Gegenpol zu literarischen Texten wären unter diesem Aspekt die Werbetexte. Da geht es nach einem vielzitierten Prinzip: „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“ Der Text muss also so sein, dass möglichst viele Leser „anbeißen“. Sie sollen dazu gebracht werden, etwas zu kaufen, was sie noch nicht haben – und oft gar nicht brauchen.

Weil ich eher Sachtexte als Literatur schreibe – auch wenn ich gelegentlich an die Grenzen gehe: Hier stellt sich die Frage ganz anders:
Wenn ich etwa über französischen Käse schreibe (oder referiere), knüpfe ich natürlich an bekannten Begriffen an: Der Beaufort kommt aus den Bergen, die auf der Evian-Flasche sind – damit wissen die Leute es immer noch nicht genau, aber sie haben ein Bild.

In meinen Reiseführern habe ich meistens das Prinzip der Mischung von Bekanntem und Unbekanntem: Wenn ich die Leute nur „Abholen“ würde, wären die Bücher voll von „Highlights“ und „Hotspots“ – die Leute würden nur bekommen, was sie erwarten, und es wären Bücher für den Massentourismus. Das „Hinbringen“ wären dann die Orte, die oft als „Geheimtipps“ verkauft werden, was schon eine begriffliche Absurdität ist, wenn sie in einer Auflage von zehntausenden von Exemplaren auf den Markt geworfen werden. Die ausgewogene Mischung ist immer eine Gratwanderung, jedes Mal auf einem anderen Grat.

Die Kunst ist doch, mit einem Text beides zu machen: bei den Kenntnissen und Bedürfnissen der Leser anknüpfen und sie mitnehmen und weiter mitnehmen – wenn sie sich darauf einlassen. Oft genügt es aber auch, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, an andere Orte zu kommen, den Horizont zu erweitern …

Das Beitragsbild zeigt (als Symbolbild) einen kleinen Bahnhof in Graubünden – der Bahnhof ist ja oft ein Ort, an dem man Leute abholen muss oder darf.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert